Hintergrund

Das erste Jahr im Rückblick

Seit September 2022 leitet Ludwig Böhme den Windsbacher Knabenchor. Im Interview lässt der Dirigent sein erstes Jahr in Windsbach Revue passieren.

Herr Böhme, Sie sind seit bald einem Jahr künstlerischer Leiter des Windsbacher Knabenchors. Wie haben Sie die vergangenen Monate erlebt?

Sehr intensiv! Und ich habe gelernt: Den „Normalbetrieb“ eines Knabenchores gibt es nicht. Es ist immer was los, es ist aufregend und abwechslungsreich – die Arbeit gibt mir auch immer wieder viel zurück. Was vielleicht überraschen mag: Im Arbeitsalltag als Leiter des Windsbacher Knabenchores ist die Musik nicht immer die Hauptaufgabe, sondern es gibt auch viel zu tun im organisatorischen, pädagogischen und wirtschaftlichen Bereich. Ich bin gerne hier und in diesem ersten Jahr habe ich viel gelernt und erlebt. Und ich habe eine Basis gefunden, auf die ich im nächsten Jahr aufbauen kann.

Wann haben Sie atmosphärisch und musikalisch das Gefühl gehabt, angekommen zu sein?

Das ist kein Gefühl, das sich einstellt und dann ist es und bleibt auch da, sondern es muss jeden Tag neu erarbeitet werden. Es gibt Momente, da funktioniert alles ganz hervorragend und Tage – und die können durchaus auch aufeinanderfolgen! –, wo irgendwie der Wurm drin ist. Das musikalische Verständnis in einem Knabenchor ist ein Prozess, der jeden Tag aufs Neue hergestellt werden muss.

Der Chor hat im Auswahlverfahren ja eindeutig für Sie gestimmt. Wie läuft den nun die tagtägliche Zusammenarbeit?

Auch das ist ein Prozess, der sich stetig weiterentwickelt und Zeit braucht. Die Windsbacher werden durch ihren Chorleiter intensiv geprägt. Bis August 2022 war dies Martin Lehmann. Nun bin ich das – mit zum Teil ähnlichen, sicher aber auch vielen unterschiedlichen Ansätzen und Herangehensweisen. Das lässt sich nicht so einfach umschalten. Daher bin ich sehr dankbar dafür, dass der Chor so offen ist, mich gut angenommen und Bereitschaft gezeigt hat, sich auf Neues einzulassen. Das ist keine Kleinigkeit.

Wer die Windsbacher über einen längeren Zeitraum begleitet und nun mal in Ihre Proben hereinhorchen kann, wird merken, dass Ihr Stil vor Ort durchaus ein Novum ist: Sie arbeiten mit einer größeren Gelassenheit. Hat sich was in der Art des musikalischen Umgangs miteinander geändert?

(lacht) So gelassen bin ich gar nicht. Die Windsbacher sind ein hervorragender, engagierter und leidenschaftlicher Chor. Genau das möchte ich erhalten und fortführen. Den Stil meiner Vorgänger habe ich nie direkt erlebt, kenne ihn also nur vom Hörensagen. Insofern möchte ich mich an Vergleichen nicht beteiligen und lieber nach vorn blicken. Meine Aufgabe ist es, die hervorragende Arbeit meiner Vorgänger kontinuierlich fortzusetzen und weiterzuentwickeln. Und ich mache das auf meine Art.

Und die sieht wie aus?

Sie fußt auf Gründlichkeit und Inspiration. Dass sauber, zusammen und balanciert gesungen wird, ist die Basis. Aber da muss ja noch mehr passieren: Es sollte das Werk, die Absicht des Komponisten, der Inhalt, die historische Einordnung und unser Blick aus dem Heute im Fokus einer guten Interpretation stehen. Und: Konzert ist Showtime und jeder Moment muss mit Sinn gefüllt werden. Der speist sich zu gleichen Teilen aus Qualität und Emotion.

Früher haben Sie selbst in einem Knabenchor, nämlich im Thomanerchor, gesungen. Nun stehen Sie vor einem solchen Ensemble. Ist das die andere Seite ein- und derselben Münze?

Ich profitiere natürlich von den Erfahrungen, die ich in Leipzig gemacht habe. Denn das gibt mir die Möglichkeit, mich in die Jungs vielleicht etwas besser hineinversetzen zu können. Ich empfinde es als sehr große Verantwortung, in der neuen Leitungsposition dieses sehr komplexe Schiff Windsbacher Knabenchor zu steuern. Die Windsbacher sind starke Persönlichkeiten, die viel geben, aber auch Erwartungen haben. Die beinahe tägliche Chorarbeit ist für die Windsbacher quasi ein Hauptberuf und hat eine große Intensität. Die Gemeinschaft und das Zusammenleben auf unserem schönen Campus ist die notwendige Voraussetzung für unsere Erfolge. Wir haben in nur einem Jahr schon so viel zusammen erlebt.

Danke für das Stichwort: Was waren für den Chor denn die konzertanten Höhepunkte?

Jeder Auftritt, von der Andacht bis zur Oratorienaufführung verdient die gleiche Ernsthaftigkeit. Aber natürlich: In der Elbphilharmonie oder im Palau de la Música Catalana in Barcelona zu singen und zu sehen, wer da vor uns schon Erfolge gefeiert hat, ist für die Windsbacher schon etwas Besonderes! Und das setzt sich ja mit der Johannespassion bei der Bachwoche Ansbach oder im Rheingau Musik Festival fort. Als ersten Höhepunkt würde ich unsere Spanientournee mit Bachs Weihnachtsoratorium nennen, denn auf die erste Auslandsreise nach den Coronajahren haben sich alle besonders gefreut. Da A-cappella-Singen unser Alltag ist, werden die Oratorien auch von den Sängern als besonders spannend wahrgenommen: Solisten und Orchester inspirieren den Chor ungemein. Neben den Reisen und der Chorsinfonik war sicherlich auch unser Konzert zum Knabenchorgipfel beim Bachfest Leipzig ein besonders emotionaler Höhepunkt, denn natürlich wollten der Chor und auch ich ganz persönlich in meiner „alten“ Heimat den einen überzeugenden Auftritt abliefern.

Sie haben eben den Begriff Gipfeltreffen erwähnt. Spüren oder benennen Sie eine Konkurrenz zwischen den Knabenchören?

Natürlich interessiert es mich, wie andere Knabenchöre, wie meine Kollegen arbeiten – musikalisch, pädagogisch und institutionell. Von Gutem kann ich mich inspirieren lassen, von weniger Gutem distanziere ich mich. Ich möchte einfach grundsätzlich nicht, dass Musik zum Wettbewerb wird, wo es Gewinner und Verlierer gibt. Jugendliche schwanken auch – es gibt Sternstunden und auch einmal schlechte Tage, vielleicht ist bei Kindern die Bandbreite etwas größer als sie bei gefestigten Erwachsenen ist. Auch ändert sich ein Knabenchor mit jedem Monat, bei dem Jungs in den oder aus dem Stimmbruch kommen. Deshalb ist die Arbeit ein ständiges Dranbleiben. Jeder Knabenchor hat seine eigene Struktur, Aufgabe und Wirkungsstätte. Dies gibt jedem Ensemble sein unverwechselbares Profil. Ich bin dann glücklich, wenn ich merke, dass wir das, was wir musikalisch erarbeitet haben, im Konzertmoment vielleicht sogar noch ein bisschen übertreffen oder um Facetten ergänzen konnten, die wir im Probenalltag noch nicht erreicht hatten – wenn wir ein Stück weit über uns herauswachsen konnten. Und genau dies freut mich auch bei allen anderen Knabenchören.

Was gibt es für besondere Projekte im kommenden Jahr?

Auch für die kommende Saison haben wir wieder einen interessanten und schönen Konzertkalender. Zu Weihnachten gehen wir eine Zusammenarbeit mit der lautten compagney berlin an, die uns auch in das Konzerthaus Berlin führen wird. Eine weitere Kooperation findet mit den Nürnberger Symphonikern statt. Im Frühjahr steht eine Konzertreise nach Frankreich an und wir werden auch wieder im Rheingau Musik Festival zu Gast sein und dort unter anderem Puccinis Messa di Gloria singen, also Chorsinfonik, die in eine ganz andere Stilistik geht. Es gibt genug zu tun.