Portrait

Der Meister der Stille

Der Komponist Arvo Pärt wird 90. Als er im Rheingau Musik Festival 2005 Composer in residence war, sang der Knabenchor eines der Portrait-Konzerte. Pärt zeigte sich damals tief beeindruckt von der Interpretation seiner Musik.

Mit dem am 11. September 1935 im estnischen Paide geborenen Arvo Pärt feiert in diesem Jahr einer der wichtigsten Schöpfer spiritueller und geistlicher Musik der Gegenwart seinen 90. Geburtstag. Vor 20 Jahren widmete ihm das Rheingau Musik Festival ein Komponistenportrait mit Künstlergespräch sowie Konzerte mit dem BR-Kammerorchester, Windsbacher Knabenchor und Hilliard Ensemble. Deren Programme zeichneten den künstlerischen Weg des Musikers nach, der sich im Laufe seines Lebens mit diversen Zwängen konfrontiert sah: Die Kulturpolitik der UdSSR galt es ebenso zu überwinden wie die Dogmen der Avantgarde, bevor er seinen eigenen Stil entwickeln konnte.

Alles begann mit einem ramponierten Klavier

Dabei begann Pärts Komponisten-Karriere mit einem ramponierten Klavier, erinnert er sich: „Es hatte nur die Hälfte der Hämmer und auch die gingen immer mehr kaputt. Und als es schon ganz schlimm war, da habe ich eben stumm gespielt und mir einen Klang vorgestellt, der wunderschön war. Das war vielleicht eine erste kompositorische Übung.“ Seine Musik wirkt tatsächlich eher im Stillen. Fast könnte man sagen, in seinen Werken habe er mehr nicht notiert als ausgeschrieben. „Es ist viel schwieriger, eine einzige passende Note zu finden, als eine Menge zu Papier zu bringen“, erinnert sich der Komponist an die Worte seines Lehrers Heino Eller während des Studiums zwischen 1954 und 1963 in Tallin. Von 1958 an arbeitete er gleichzeitig als Tonmeister beim estnischen Rundfunk und schrieb verschiedene Filmmusiken.

Wegmarken seines Schaffens waren der Neoklassizismus, die Zwölftonmusik und der Serialismus, das Frühwerk deutlich von der russischen Tradition eines Sergej Prokofjew oder Dmitri Schostakowitsch beeinflusst. Mitte der 1960er-Jahre konzentrierte sich Pärt auf serielle Gestaltungsformen und Materialcollagen, bevor er 1968 die Musik des Mittelalters für sich entdeckte und Komponisten wie Guillaume de Machault und Josquin Desprez studierte. Anfang der 1970er-Jahre trat er der russisch-orthodoxen Kirche bei.

Tönten die ersten großen Werke noch laut, ging der Komponist nach einer Sinnkrise neue Wege: „Ich entdeckte eine Welt, die ich nicht kannte: ohne Harmonie, ohne Metrum, ohne Klangfarbe, ohne Orchestrierung, ohne alles. In diesem Augenblick wurde mir klar, welche Richtung ich verfolgen musste.“ So kam es zur Entwicklung eines Stils, der für spätere Werke so charakteristisch wurde: „Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird. Dieser Ton, die Stille oder das Schweigen beruhigen mich. Ich arbeite mit wenig Material, mit einer Stimme, mit zwei Stimmen. Ich baue aus primitivem Stoff, aus einem Dreiklang, einer bestimmten Tonqualität. Die drei Klänge eines Dreiklangs wirken glockenähnlich. So habe ich es Tintinnabuli genannt.“

Faszinierende Stil der Reduktion

Pärts Œuvre ist reich und vielseitig: Es umfasst großangelegte Kompositionen für Chor und Orchester, vier Symphonien sowie Werke für Solisten und Orchester, zahlreiche Chorstücke und Kammermusik. Die meisten seiner Stücke basieren auf liturgischen Texten und Gebeten.

Beispielhaft klingt hier die Vertonung des Magnificat, die die Windsbacher auf ihrer 1999 veröffentlichten CD „Chormusik im 20. Jahrhundert“ singen: Die Musik kreist leise, unaufdringlich und neu in sowie um sich und entfaltet sich mit wenigen Gesten, um dann zu einem Ruhepunkt abzusinken. Dieser faszinierende Stil der Reduktion führt Aufführende wie Hörer zurück zum Wesentlichen, zum Kern der Musik. Oft sind es nur wenige Töne, Wiederholungen und kleinste Intervalle, in denen sich der Komponist ausdrückt. Dadurch erzielt er jedoch eine ungeahnt große Wirkung: Die Fragmentierung, der flächige Klang – Pärt schafft schwebende, oft im Ungewissen bleibende kaleidoskopartige Akkorde, die dennoch eine unfassbare Tiefe haben.




„Vielleicht kommt auch für den größten Künstler der Moment, in dem er nicht mehr Kunst machen will oder muss. Und vielleicht schätzen wir gerade dann sein Schaffen noch höher ein; weil es diesen Augenblick gegeben hat, in dem er über sein Werk hinausgelangt ist“, charakterisiert der 90-Jährige selbst sein Schaffen in der Retrospektive.


(Fotos von Eric Marinitsch und Priit Grepp)